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Old 04-11-2005, 13:11   #2
timber-der-wolf
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Location: Da, wo auch der Wolf zu Hause ist
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Artikel über die Domestizierung des Wolfes/Hundes ...
Von Desmond Morris. Aus NZZ Folio (Die Zeitschrift der neuen Zurcher Zeitung)
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Der Mensch hält Vögel in Volieren, Hamster in Käfigen, Fische in Aquarien. Nur Hund und Katze stromern durch die Wohnung. Warum dürfen sie das?
So veschieden Katzen und Hunde auch sein mögen, sie haben doch etwas Wesentliches gemein: Es sind die einzigen beiden Tiere, die sich frei in unseren eigenen Behausungen bewegen dürfen. Wir halten vielerlei Tiere, die uns Gesellschaft leisten, aber alle anderen werden in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Vögel werden in Volieren und Bauern gehalten, Hamster in Käfigen, Fische in Aquarien, Kaninchen und Pferde in unterschiedlichen Arten von Ställen. Keines dieser Tiere darf nach Belieben durch unsere Häuser und Wohnungen, durch Zimmer und Flure stromern. Was ist an Katzen und Hunden so besonders, dass wir ihnen diese einzigartige Stellung unter den Haustieren einräumen, ihnen ein so überragendes Vertrauen entgegenbringen und ihre Anwesenheit in unseren privatesten Bereichen dulden?

Die Antwort liegt zum Teil in ihrer langen Domestizierungsgeschichte begründet. Über zahllose Generationen hinweg wurden diese Tiere zu eben jenen Hausgenossen herangezüchtet, an denen wir uns heute so erfreuen. Bei jedem neuen Wurf wurden die freundlichsten - will heissen, die zutraulichsten oder zahmsten - Welpen und Kätzchen bevorzugt, und so verwässerte sich ganz allmählich ihre Wildheit. Zwar behielten sie einen beträchtlichen Teil ihrer ursprünglichen, ungezähmten Tierpersönlichkeit bei, aber gleichzeitig stellten sie sich mehr und mehr auf das Zusammenleben mit ihren merkwürdigen neuen Gefährten ein.

Bei den Hunden dauert dieser Prozess schon unglaublich lange. Der Hund war überhaupt das erste Tier, das vom Menschen domestiziert wurde. Bis vor kurzem glaubte man noch, dieser Prozess habe vor etwa vierzehntausend Jahren begonnen, was an sich schon eine ansehnliche Zeitspanne ist, aber neuere genetische Forschungen legen nahe, dass diese Schätzung noch immer viel zu kurz greift. DNA-Untersuchungen von nicht weniger als 69 verschiedenen modernen Hunderassen belegen, dass alle Hunde vom Wolf abstammen, und zweitens, dass es auf Grund der DNA-Unterschiede zwischen Wölfen und Hunden mindestens 135 000 Jahre gedauert haben muss, bis der Wolf sich zum modernen Haushund entwickelt hatte.

Diese Erkenntnis hat wiederum die Archäologen verblüfft, weil sie sich durch Knochenfunde nicht bestätigen lässt. Die Genforscher haben jedoch eine einfache Erwiderung auf diesen Einwand parat. Sie weisen darauf hin, dass die Knochen der frühen Hunde vermutlich denjenigen ihrer wölfischen Ahnen so ähnlich waren, dass sie nicht ohne weiteres als «Hundeknochen» identifiziert werden können. Vielleicht sind die menschlichen Jäger der Vorzeit erst lange nach der ersten Domestizierung daran gegangen, die Grösse oder Körperform ihrer wölfischen Hausgenossen zu beeinflussen. Vielleicht hat dieser Prozess, der am Ende zu flacheren Schnauzen, kürzeren Beinen, Ringelschwänzen und den anderen Charakteristika moderner Hunde führte, erst vor rund 14 000 Jahren eingesetzt, so dass als solche erkennbare «Hundeknochen» erst ab dieser Zeit zu finden sind.

Interessanterweise weisen einige (rund ein Viertel) der genetisch untersuchten Hunderassen eine erheblich grössere Affinität zum Wolf auf als die anderen. Man muss vermuten, dass diese Rassen auch nach Beginn des langen Domestizierungsprozesses absichtlich oder zufällig immer wieder mit Wölfen gekreuzt wurden. Das ist gar nicht so erstaunlich, wie es klingt, haben doch gerade in den letzten Jahren einige Züchter ohne Schwierigkeiten Wolfs-Hund-Mischlinge herangezogen und damit unter Hundeexperten eine heftige Kontroverse ausgelöst. Es ist ausserdem bekannt, dass die Inuit von Zeit zu Zeit ihre Husky-Hündinnen in der Wildnis festbinden, um sie von Wölfen decken zu lassen und dadurch die Ausdauer ihrer Schlittenhunde zu stärken.

Trotzdem muss man sich fragen, weshalb die Urmenschen, die in Gesellschaften von Jägern und Sammlern lebten, sich ausgerechnet mit einem fleischfressenden Tier wie dem Wolf verbündeten. Menschenhorden und Wolfsrudel, beide auf der Jagd nach Beute - wie konnten die Rivalen zu Partnern werden?

Wir können bestenfalls Mutmassungen über das Szenario anstellen. Die wahrscheinlichste Geschichte lautet ungefähr so: Wenn die menschlichen Jägerhorden an einem Wolfsbau vorbeikamen, in dem sich hilflose Welpen befanden, nahmen sie die Jungtiere mit nach Hause. Einige davon wurden sogleich getötet und gegessen, andere wurden verschont - vielleicht weil man sie erst verzehren wollte, nachdem sie etwas grösser geworden waren.

Die verspielten Wolfswelpen gefielen den Kindern der vorzeitlichen Jägerstämme und wurden als Kuscheltiere benutzt. Die Welpen wuchsen heran, wurden zunehmend vermenschlicht und betrachteten sich schliesslich als Teil des menschlichen «Rudels». Und da die Tiere weiterhin zahm und freundlich blieben, hat man am Ende darauf verzichtet, sie zu schlachten und zu verspeisen.

Ihre natürliche Neigung zu bellen, sobald sie einen fremden Eindringling witterten, dürfte das Überleben solcher gefangenen Wolfswelpen begünstigt haben. Ihr Wert als Wachhund wurde sicherlich rasch bemerkt. Und selbst dem einfältigsten menschlichen Gehirn muss schon bald gedämmert haben, dass die hündischen Hausgenossen besser hören und riechen konnten als ihre neuen Herren. In Anbetracht solcher Vorzüge lag es nahe, die Tiere nicht nur als Nahrung zu betrachten, sondern ihre besonderen Fähigkeiten zu nutzen.

In einem nächsten Schritt wurden sie von den Menschen auf die Jagd mitgenommen. Mit ihren überlegenen Sinnesorganen leisteten die Hunde unschätzbare Dienste beim Aufspüren und, gegen Ende der Jagd, auch beim Zusammentreiben und Überwältigen der Beutetiere. Auf Grund dieser drei neuen Aufgaben - Spielgefährten der Kinder, Bewacher von Höhlen und Hütten und aktive Jagdgefährten - schienen diese ersten Hunde ihren Besitzern lebendig wertvoller als tot. Eine dauerhafte Partnerschaft nahm ihren Anfang.

Aber all dies war überhaupt nur dank den besonderen Eigenschaften des wilden Vorfahren des Hundes möglich. Auch wenn es manche zeitgenössischen Hundefreunde nicht gerne hören, bleibt es eine Tatsache, dass die ersten Haushunde nichts anderes waren als zahme Wölfe. Zwar hat man in der Vergangenheit auch weniger furchterregende Arten wie den Schakal und den Kojoten als Ahnen in Betracht gezogen, aber die genetischen Untersuchungen schliessen diese Abstammungslinien weitgehend aus. Der moderne Haushund, ob Yorkshireterrier oder deutsche Dogge, ist nicht mehr und nicht weniger als ein Wolf im Hundepelz.

Es mag uns erschrecken, dass «des Menschen bester Freund» den Wolf zum Ahnen hat, doch zu Unrecht. Das Bild vom Wolf ist durch die Volksmythologie und den Aberglauben krass entstellt worden. In Wahrheit ist der Wolf ein sehr geselliges Tier, das im Rudel strengen Verhaltensregeln gehorcht und sich so stark beherrscht, dass es für die Domestizierung geradezu prädestiniert ist.

Hunde sind deswegen so leicht abzurichten, weil auch der Wolf in freier Wildbahn lernen muss, sich den dominanten Mitgliedern des Rudels unterzuordnen. Sobald man ein einzelnes Wildtier gezähmt hat, überträgt es seine ganze Gefühlsbindung auf die menschlichen Gefährten. Es behandelt sie gleichsam als merkwürdig aussehende Wölfe und ist schnell bereit, den menschlichen Anführern dieselbe Gefolgschaft zu erweisen wie dem wölfischen Leittier.

In freier Wildbahn bleiben Wölfe auf der Pirsch bewegungslos stehen, sobald sie die Witterung eines Beutetiers aufgenommen haben. Diese Eigenschaft wurde bei der Züchtung der heutigen Vorstehhunde oder Pointer genutzt. Sobald die Wölfe jedoch mit der eigentlichen Jagd begonnen haben, kreist das Rudel sein Beutetier ein. Diese Eigenschaft nutzte man bei der Züchtung der modernen Hütehunde. Nachdem das Beutetier erlegt ist, tragen einige Wölfe einen Teil der Nahrung in ihren Bau zurück, wo sie sie mit den Mutter- und Jungtieren teilen. Diese Eigenschaft wurde bei der Züchtung der modernen Apportierhunde oder Retriever veredelt.

Dies sind nur einige Beispiele dafür, dass wölfische Verhaltensweisen in den modernen Hunden nicht nur erhalten geblieben sind, sondern bei manchen Rassen sogar hervorgehoben und verfeinert wurden. Diejenigen Hunde, die sich am besten zum Kuscheltier eignen, sind nach Kriterien der Kindlichkeit und Verspieltheit ausgewählt und weitergezüchtet worden. Die Schoss- und Spielhunde unserer Tage zeigen selbst als ausgewachsene Tiere ein viel welpenhafteres Verhalten als die Gebrauchshunde.

Aber weshalb sehen die heutigen Haushunde so anders aus als Wölfe? Für die Menschen der Vorzeit war es mitunter überlebenswichtig, die domestizierten Tiere bereits aus grösserer Entfernung von ihren wilden Ahnen unterscheiden zu können. Um jede Verwechslung auszuschliessen, wurden sonst nutzlose Merkmale wie Ringelschwänze, ein schwarzweiss geschecktes Fell oder lange Haarzotteln bevorzugt. Von den Wandmalereien im alten Ägypten wissen wir, dass solche Eigenheiten bereits zur Blütezeit dieser grossen Kultur vor fünftausend Jahren existierten. Schon die Ägypter besassen kurzbeinige und gefleckte und grosse, schlanke Hunde sowie solche mit Ringelschwänzen. Und wenig später gab es auch in anderen Teilen der Welt riesige Doggen, die im Krieg als Kampfhunde eingesetzt wurden, und winzige Tempelhündchen, in denen sich, wie man glaubte, die Seelen verstorbener Mönche reinkarnierten.

Als sich Jahrhunderte später in Europa die verschiedenen Jagdsportarten verbreiteten, wurden vielerlei Sorten von Jagdhunden gezüchtet - Spürhunde und Spionhunde, Terrier und, noch später, Wasser- oder Schiesshunde. Die Spezialisierung führte dazu, dass zu Beginn unseres Jahrhunderts in der ganzen Welt Hunderte von Hunderassen existierten. Und im weiteren Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts kamen zahlreiche weitere hinzu, die nur noch als besonders originelle Attraktionen für die immer beliebter werdenden Hundeausstellungen gezüchtet wurden.

Allein, trotz dieser immensen Vielfalt hat der Hund seine wesentlichsten Persönlichkeitsmerkmale bewahrt. Manche Rassen bellen häufiger, manche sind aktiver, manche geselliger, aber die Abweichungen vom wölfischen Erbe halten sich in engen Grenzen. Selbst der kleine Chihuahua ist in seinem Herzen ein stolzer Wolf geblieben. Die grösste Charakterveränderung liegt in einem Bereich, wo die wenigsten sie vermuten würden: Der gewöhnliche Haushund ist weniger nervös und ängstlich als der Wolf. Wölfe sind unglaublich scheue Tiere, und entgegen dem Volksglauben gibt es keinerlei stichhaltigen Beweis dafür, dass ein gesunder wilder Wolf je einen Menschen angefallen hat.

Für den modernen Haushund lässt sich dies leider nicht behaupten. Jedes Jahr ereignen sich zahllose Fälle, bei denen misshandelte Hunde sich an ihren Peinigern vergehen. Der Hund ist viel mutiger als der Wolf, ein Merkmal seiner psychischen Struktur, das über Jahrhunderte absichtlich verstärkt wurde. Der Hund wurde menschenfreundlicher, aber es braucht nicht sehr viel, den loyalen neuen Gefährten im Handumdrehen zum brutalen Kampfhund umzufunktionieren, der zur Verteidigung seines Besitzers, aber - schändlicherweise - auch zu rohen Vergnügungen eingesetzt werden kann.

Eine weitere bedeutende Veränderung bestand in der «Verjüngung» seines wölfischen Naturells. Dies ist der Grund, weshalb Hunde viel mehr bellen als Wölfe. Wolfswelpen fangen an zu bellen, um ihre Eltern und die anderen Wölfe im Rudel zu warnen, sobald sie etwas wahrnehmen, das ihnen nicht geheuer ist. Ausgewachsene Wölfe bellen höchst selten, wenn überhaupt. Hunde dagegen bellen, wie ein jeder zur Genüge weiss, ihr ganzes Leben lang. Das Bellen des ausgewachsenen Hundes zeigt, dass er trotz seinem Alter mental noch ein Wolfsjunges geblieben ist. Zum Vorteil des Menschen, bleiben die Hunde so doch Zeit ihres Lebens brauchbare Wächter.
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